Von Angst bis Guido Wachs

Von Angst bis Guido Wachs

Ich wurde Polizeiruf-Rostock-Fan an einem Neujahrstag. 2017. Naja, eigentlich waren es ein, zwei Wochen vor dem 1. Januar. Genau weiß ich es nicht mehr. Der Sendeplatz war ursprünglich für einen Dortmunder Tatort vorgesehen, der aber aufgrund des Anschlags in Berlin verschoben wurde, da er eben Terrorismus zum Thema hatte und das nicht passte. Stattdessen durfte „Angst heiligt die Mittel“ kurzfristig einspringen. Und ich glaube sogar, das war alles so kurzfristig, dass wir damals keine Chance mehr hatten, eine Rezension rechtzeitig zum Druck der Zeitung fertigzukriegen. Es ging alles zu schnell. Ganz eventuell gab es sogar doch eine Kritik, die war aber „kalt“ geschrieben. Und ich erkläre jetzt nicht, was das bedeutet, weil es eher beschämend als toll ist, etwas „kalt“ zu schreiben. Da ich es aber schlicht nicht mehr weiß, lass ich das mal so stehen.

Als Bukow seinen schweren, müden Körper aus dem alten Volvo hebt, um Katrin König hinterherzulaufen und ihr zu sagen, dass sie doch bitte nicht nach Berlin gehen solle, „wegen mir“, und als sie ihn daraufhin schlägt, mit der geballten Wut, der Angst, der Verletztheit, die sie gerade durch die Beinahe-Vergewaltigung eines Pädophilen erfahren hatte, und als der Film dann damit endet, dass sie wutentbrannt an den Marktbuden vorbeiläuft, ins Ungewisse – da war es um mich geschehen. Wie dysfunktional, wie kaputt, wie verliebt, wie sehr aufeinander angewiesen und gleichzeitig wie sehr darauf bedacht, dem anderen genau davon nicht zu viel zu verraten, konnten zwei Menschen sein? Bis dahin hatte ich die Filme zwar mit vollem Herzen geguckt, hätte mich aber nicht als Fan bezeichnet. Denn als jahrelange, erfahrene Fernseh- und Filmguckerin war mir klar: Die Autoren würden es sich niemals trauen, den beiden eine echte Chance als Paar zu geben. Oder würden sie? Weil sie dann nicht wüssten, was sie mit ihnen anfangen sollen und befürchten mussten, dass die Zuschauer das Interesse verlören. Hundert Mal im deutschen und amerikanischen Fernsehen gesehen, eine kreative Lösung hatte eben noch keiner gefunden bzw sich an die eine noch nie gedrehte noch nicht rangewagt. Die Antwort auf „was machen wir dann?“ lautet meines Erachtens nämlich: „Nichts.“ Lasst sie halt SEIN, lasst sie in Ruhe, ein Krimi kann auch von was anderem leben.

Ich fieberte also dem nächsten Film entgegen und wusste, dass das dauern kann, wenn doch nur zwei im Jahr liefen. Spannung versprach das Ende ja allemal. Dass Katrin König nicht nach Berlin gehen würde, war ohnehin schon klar, aber wenn ein kaputter, müder, dreckiger Mann, der sonst in emotionalen Dingen eher so der Schweiger ist, so eine Äußerung tätigt, dann dürfte es doch noch mal spannend werden zwischen den beiden? So dachte ich.

Dann kam „Einer für alle, alle für Rostock“ relativ zügig nur viereinhalb Monate später. Und ich glaube, der Film – und insbesondere das Ende – haben mich damals ein bisschen traumatisiert. Wenn ich heute mit anderen Fans darüber chatte, wie wichtig, wie gut, wie intensiv die Szene in der Bar ist, wie wichtig eigentlich jedes gesprochene Wort in diesen Minuten war, bezugnehmend auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, dann nicke ich und stimme zu. Ich möchte an dieser Stelle auch festhalten, dass es für Rostock keine besseren Autoren als Wolfgang Stauch und Florian Oeller gibt. Bitte, danke.

Jedenfalls: Ich fühle diese Szene auch komplett wie viele andere, aber mein Kopf rast direkt wieder zum Ende, als Katrin mit ihrer ungeheuerlichen Anschuldigung quasi die letzten Worte spricht und mich fassungslos zurückgelassen hat. Ich erinnere mich noch wie damals, dass ich dachte: „Das hat sie nicht gesagt?! Das hat sie nicht ernsthaft gesagt?! Sie hat aber nicht gemeint, was ich glaube, das sie gemeint hat?! Das hat sie nicht gemeint? Wie kann sie sowas sagen?“ Es war einfach innerhalb weniger Minuten alles noch viel schlimmer geworden, als es nach „Angst heiligt die Mittel“ sowieso schon war. Ihre Weigerung, in ihrem Bericht zu lügen, sollte uns dann ja ohnehin noch auf die Füße fallen. Und als ich alle Katrin-Hass-Gedanken zehn Mal durchgeschleudert hatte, kam mir der nächste: Ich würde mindestens, also MINDESTENS, sieben Monate auf die Auflösung warten müssen. EHER länger. Ganz sicher sogar länger. Ich weiß auch noch, dass ich auf meiner Couch immer kleiner und wütender wurde und mich ein bisschen dafür hasste, dass ich ausgerechnet eine Filmreihe gut finden musste, von der es nur zwei Filme gab. Noch blöder konnte es mich ja nicht treffen. Bis zu diesem Zeitpunkt war für Katrin ja auch schon einiges schiefgelaufen. Erst hatte sie dem Kollegen nicht erzählt, dass sie ein Angebot aus Berlin hat, als sie ihn fragt, ob sie denn bleiben solle, antwortet er nicht, dann wird sie beinahe vergewaltigt. Dann kommt der Kollege endlich aus dem Quark und macht einen Schritt auf sie zu; was er ja immer tut, aber oft auch fast zu spät. Doch dann rückt sich ihr Gerechtigkeitssinn wieder zurecht und sie zieht ihn mit ihrer Entscheidung, den Bericht nicht zu fälschen, in ihren Moralsumpf, der im Laufe der Zeit nun wirklich genau das geworden ist: ein Sumpf. Die Stimmung wird dann noch schlechter, als sie ihrem Kollegen unterstellt, dass er das vielleicht ja noch irgendwann gegen sie verwenden könnte. Ein Vertrauensbruch, der fast nicht mehr einzufangen ist. Wie soll es denn von hier bitte weitergehen? Warten, warten, warten, warten…

….und zwar MEHR ALS EIN JAHR: Denn „In Flammen“ wurde 13 Monate später ausgestrahlt. Endlich Hoffnung auf Klärung, auf Besserung des Verhältnisses? Denkste. Hier tut sich im Grunde gar nichts. Außer, dass Katrin nun ein bisschen begreift, dass sie das alles, so wie es dann nun geworden ist, ja auch nie wollte. Es tut ihr leid, und sie sagt es. Ein Riesenschritt für diese Frau, entsprechend verwundert guckt der Kollege. Und auf ihre Frage, ob es denn was nutze, dass es ihr leidtue, kann er dann nur „das werden wir ja sehen“ entgegnen. Auf ihr „Schaffen wir das?“ am Ende weiß er dann nur, „keine Ahnung“ zu sagen. ENDE. Film zu Ende. Und ein weiteres Mal saß ich auf meinem Sofa und ging in Gedanken den Kalender durch. Wie lange müsste ich diesmal warten? Würde überhaupt irgendwann noch einmal IRGENDWAS besser werden? Noch so ein Film und ich würde aufgeben, da war ich sicher. Little did I know…

… über die Fähigkeit der Autoren und der Redaktion, die ganze Scheiße einfach auch genau noch einmal durch neue Scheiße zu ziehen und alles schlimmer zu machen. Da muss ich auch sagen: Das hat ein Herausstellungsmerkmal im deutschen Fernsehen. Wer sich entscheidet, in zwei Filmen im Jahr eine Horizontale zu erzählen und es in dieser schafft, über knapp zwei Jahre einfach alles immer schlimmer zu machen, ohne auch nur eine Entspannung anzudeuten, der dreht am ganz großen Rad. Und macht vielleicht einfach gutes Fernsehen. Denn immer, wenn ich mich fragte, wie das jetzt wohl noch schlimmer werden sollte, weil da kaum Luft nach unten war, kamen sie mit einem neuen Kniff um die Ecke, um Bukow noch ein bisschen mehr leiden zu lassen und Katrin noch ein bisschen trauriger werden zu lassen. Und den Zuschauer in wütende Verzweiflung sinken zu lassen. Herzlichen Dank! Ich beneide heute alle, die die Chance hatten, einfach per Durchmarsch alle Filme, soweit vorhanden, am Stück zu gucken. Ohne monatelanges Warten. Euch ist viel Kummer erspart geblieben. Und viel Wut vielleicht auch.

Aber: Allein, dass es möglich war, diesen Handlungsbogen über mehr als zwei Jahre – ich rechne „Kindeswohl“ als Ausläufer noch mit hinein – so zu entwickeln, zu schreiben, den Charakteren trotz der vorgegebenen Richtung (nach unten natürlich) noch Raum zur Entwicklung zu geben UND nebenbei auch noch eine anspruchsvolle Krimihandlung zu erzählen, das ist für mich immer noch einer der gelungensten Drehs des letzten Jahrzehnts. Aus diesem Grund steht der gesamte Handlungsbogen ab „Angst heiligt die Mittel“ bis einschließlich „Für Janina“ ganz oben auf meiner Liste der letzten Dekade.

Es wurde kein Charakter für eine Handlung geopfert, sondern eher wurde geschaut, wie man den vorhandenen Charakter und seine Entwicklung nutzt, um die Geschichte zu erzählen: Das ist ja ohnehin eine DER Stärken in Rostock. In anderen Krimis dichtet man den Figuren auf einmal irgendwelche neuen Charakterzüge an, ohne sie zu erklären, einzig aus dem Grund, damit die Geschichte erzählt werden kann. Das gibt es in Rostock nicht. Alles dreht sich immer nur um die Figuren. Das macht es eben so extrem einzigartig und gut, auch deshalb, weil die Figuren konsistent bleiben.

Wenn Katrin König in der Bar sitzt und besoffen den Kollegen nachäfft, dass der jetzt wohl mal nach Hause geht, dann schwingt da eben jedes einzelne Mal mit, bei dem er nicht mit ihr getrunken, sondern nach Hause gegangen ist. Diese Szenen haben wir gesehen, beispielsweise in „Zwischen den Welten“. Und wenn er ihr schließlich in „Der Tag wird kommen“ anbietet, sie nach Hause zu bringen, dann ist das quasi Level 2, nächste Evolutionsstufe erreicht. Auch wenn sie ablehnt. Aber wenn er dann fragt, was denn daran so schlimm sei, wenn er es mag, sie nach Hause zu bringen, dann verstehen wir auf einmal die Tiefgründigkeit der Aussage. In Rostock geht es eben auch immer um das, was hinter den Worten steckt. Das, was wir seit einem Jahrzehnt beobachten und sehen, wenn wir genau hingucken.

Wenn Sascha Bukow der Kollegin den Arsch retten will, dann sehen wir das und sind dabei, beispielsweise in „Für Janina“, als er das manipulierte Beweismaterial zurückklauen will. Und später wieder, als er ihr wieder und wieder wegen Guido Wachs ins Gewissen redet („Söhne Rostocks“) und sicherheitshalber mal ihren Flachmann leert.

Spannend ist für mich auch der Aspekt, dass es immer Katrin ist, die irgendeine Schuld auf sich lädt: Sie will den Bericht nicht manipulieren, sie sagt dem Kollegen nichts vom Jobangebot, sie sagt dem Kollegen nicht, dass seine Frau fremdgeht, sie manipuliert Beweise und hat nichts Besseres zu tun, als es dem Kollegen direkt zu erzählen und ihn mit hineinzuziehen. Und trotzdem kommt er immer wieder einen Schritt auf sie zu. Spannend wird es also im „Falken“, denn wir wissen, kehrt Subocek zurück. Und schon damals hatte sie eine Schuld auf sich geladen: Sie hat Bukows „Taten“ gedeckt und in ihrem Bericht über ihn nicht erwähnt. Das dürfte Subocek nicht gefallen, weshalb sicherlich auch Katrin von der Erpressung betroffen ist. Und wieder ist sie mittendrin, wenn es für Bukow nach unten geht. Vielleicht hat sie gar nicht so Unrecht, wenn sie betrunken und tanzend und eigentlich komplett unironisch feststellt: „Wir sind nicht gut füreinander, Bukow. Wir machen uns kaputt. Jeder sich, wir einander.“

Vielleicht sind es all die Szenen aus „Angst heiligt die Mittel“ bis einschließlich „In Flammen“, die der maßgebliche Grundstein für jeden weiteren Film sind. Denn nach Katrins Feststellung wurde alles immer noch schlimmer und trotzdem kreisen beide noch umeinander, können nicht voneinander lassen. Es muss Liebe sein.

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